EXPEDITION
Amazonas
von Manaus bis Tabatinga
Der Amazonas ist der gewaltigste Fluss der Erde und schlängelt sich über 4.000 Meilen durch das geheimnisvolle, wilde Gebiet des südamerikanischen Dschungels. Die Tier- und Pflanzenwelt ist dort so vielfältig wie nirgendwo anders auf unserer Erde. So machte ich mich im September 2022 auf, diese zu entdecken. Auf einem gecharterten Hausboot schipperte ich für mehrere Wochen stromaufwärts – tief hinein in das Herz des tropischen Regenwaldes. Was ich dort sah und erlebte, übertraf meine kühnsten Erwartungen und entfachte meine Begeisterung für dieses wunderbare Gebiet Brasiliens voller traumhafter Naturlandschaften, phantastischer Tierwesen, wechselhafter Wetterlagen und herzlicher Menschen. Mit Kamera und Notizbuch gewappnet, sammelte ich einzigartige Erfahrungen und unvergessliche Erinnerungen.
Das Treffen der Gewässer
Bevor ich die Reise zum Amazonas antrat, war mir über diesen Teil Südamerikas kaum etwas bekannt. Lediglich die vage Vorstellung eines gigantischen, von undurchdringbarem Urwald umschlossenen Flusses, über den nebelige Schwaden ziehen und aus dem exotische Geräusche schallen, kursierte in meinem Kopf. Umso größer waren Vorfreude und Neugierde, nun da ich in Manaus am Ufer des Rio Negro stand. Das undurchsichtige Wasser berührte meine Stiefel, als wollte es mich zu sich locken. Bereit für mein Unterfangen, den mächtigen Amazonas 1800 Kilometer stromaufwärts zu fahren, bestieg ich ein Schnellboot, das mich an Bord der La Jangada brachte – mein Heim für die nächsten Wochen.
Der Katamaran ist der einzige seiner Art,der – wenn auch nur wenige Male im Jahr – den riesigen Strom rauf und runter schippert. Das kunstvoll konstruierte Hausboot, inspiriert durch den gleichnamigen Roman von Jules Verne, erinnert an viele bunte Hütten auf einem riesigen Floß.
Mit seiner überschaubaren Größe und dem geringen Tiefgang kann es den Fluss auch bei niedrigem Wasserstand während der Trockenzeit befahren und sogar am Ufer anlegen.
Die gesamte Region ist jedoch weitestgehend unerschlossen, weist keinerlei touristische Strukturen auf und sollte daher nur mit erfahrenen einheimischen Guides erkundet werden. So gesellte ich mich zu einer illustren Runde aus Besatzung und einiger weniger Mitreisender. Ich bezog meine Kajüte und spürte ein leichtes Ruckeln. Die Maschinen begannen zu arbeiteten und wir setzten uns in Bewegung. Bereits nach wenigen Seemeilen erreichten wir ein beeindruckendes Naturphänomen.
Ich lief rauf auf das Sonnendeck und bestaunte den Encontro das Águas. Das schwarze Wasser des Rio Negro trifft auf den braun gefärbten Amazonas, der an diesem Punkt noch Rio Solimões genannt wird. Als wären sie durch eine unsichtbare Wand getrennt, flossen beide eine Weile nebeneinander her, bis sie sich allmählich miteinander vermischten. Direkt neben dem Steuerhaus fand ich ein gemütliches Plätzchen, von dem aus ich die mir noch fremde Welt beobachtete – der Dinge sinnierend, die mich in der kommenden Zeit erwarten würden.



Das Beiboot
Der Amazonas ist der längste, breiteste und wasserreichste Fluss der Welt. Seine Ausmaße sind gigantisch und kaum greifbar. Durch die mehr als 1100 Seitenarme, die vom Hauptstrom aus weit in alle Richtungen des Dschungels hineinreichen, bietet sich ein einzigartiges Meisterwerk der Natur. Während der Regenzeit, die um den November herum beginnt, füllen sie sich mit Wasser. Wie Adern, die Lebenssaft durch unseren Körper leiten, nähren sie den wertvollen Regenwald. Es entsteht jedes Jahr aufs Neue das größte Flusssystem unseres Planeten, das unser aller Klima beeinflusst und reguliert.
Bis spätestens Juni wird der Höchststand erreicht, erfuhr ich von einem Einheimischen. Stellenweise steigt das Wasser dann bis zu den Baumkronen. Flussdelphine, Totenkopfäffchen und Leguane treffen sich auf Augenhöhe mit nistenden Vögeln und zeichnen ein beinah surreales Bild. Aber sogar jetzt, da sich der Wasserstand durch die jährliche Trockenzeit deutlich reduziert hatte, verblieben noch einige üppige Nebenflüsse, die es für mich zu erkunden galt. Die Enge dieser Gewässer und die damit verbundene geringe Distanz der gegenüberliegenden Ufer würde mich die Tierwelt im Dickicht des amazonischen Waldes wunderbar aus nächster Nähe beobachten lassen.
Da die La Jangada zu sperrig für solche Unterfangen war, würde ich das kleine Speedboat verwenden müssen, das ihr als Beiboot anhing. Es sollte sich als nützlicher Begleiter meiner Expedition erweisen und mir zahlreiche spannende Ausflüge ermöglichen.
Früh morgens gegen 6 Uhr kurz nach Sonnenaufgang bereitete ich mich auf meine erste Exkursion vor. Das tropische feucht-heiße Klima ist unberechenbar. Ich rieb mich daher großzügig mit Sonnencreme ein. Auf dem Markt von Manaus hatte ich ein Andiroba Öl erworben, das ich zusätzlich auftrug. Das aus dem reichhaltigen Fundus der südamerikanischen Pflanzenwelt gewonnene Mittel sollte mich vor Moskitostichen bewahren. Auch ausreichend Trinkwasser durfte nicht fehlen, um den durch die senkende Hitze zu erwartenden Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Meinen Rucksack belud ich mit allerlei Equipment. Bestens gewappnet konnte die Flora und Fauna Besichtigung beginnen.
Die Vogelschau
Hunderte Vogelarten habe er schon gesichtet, berichtete mir einer der Guides, die mich auf meiner Reise begleiteten. Mehr als 600 seien im Amazonas Gebiet beheimatet. Gelegenheiten sie zu entdecken, habe es häufig gegeben. Immerhin lebe er seit mehr als dreißig Jahren hier, ließ er mich wissen. Ich befand mich also in guten Händen und war frohen Mutes, einige eindrucksvolle Exemplare bestaunen zu dürfen.
Ich ging zum Heck des Schiffes, zog die Schwimmweste über und stieg ins Beiboot. Während die Jangada auf Kurs blieb und den Amazonas gemächlich stromaufwärts schipperte, entfernten wir uns rasant und bogen in einen der schmalen Nebenflüsse ab. Als sei der Hauptstrom nicht schon spektakulär genug, tauchte ich in eine weitere berauschende Welt ein.
Die Naturgeräusche nahmen deutlich zu. Von allen Seiten umgarnte mich die beispiellose Schönheit des Regenwaldes. Bäume und Pflanzen ragten prächtig über das Ufer und präsentierten ihre tierischen Bewohner. Hier und da kletterten Totenkopfäffchen von Ast zu Ast. Leguane und Faultiere relaxten eifrig um die Wette. Die unglaubliche Vielzahl unterschiedlicher Flugtiere bestimmte jedoch das Geschehen. Schlangenhalsvogel, Blaubartamazone, Rotstirn-Blatthühnchen, Schwefelmaskentyrann: Namen, die ich nie zuvor gehört hatte, gingen nun in mein tägliches Vokabular über. Mehr noch: Dank diesem zauberhaften Ort konnte ich jedem Namen ein Gefieder zuordnen.
Täglich zeigten sich neue Arten, doch manche Vögel flogen mir gleich mehrfach vor die Kamera. Auf diese Weise konnte ich mir das Erscheinungsbild von Amazonasfischer, Tukan, Karakara und ihren gefiederten Kameraden einprägen. Der Amazonas ist ein Paradies für Ornithologen oder einfach für Tierfreunde wie mich. Klein und unscheinbar saß ein Zwergfischer auf einem Stück Treibholz. Der kleinste Eisvogel Südamerikas zeigt sich nur selten. In den letzten 14 Jahren habe er ihn nur zweimal gesichtet, erinnerte sich mein Guide. Behutsam, beinahe lautlos näherten wir uns mit dem Boot. Das scheue Vögelchen erblickte uns und nahm Reißaus. Im letzten Moment betätigte ich den Auslöser und so gelang es mir mit etwas Glück und Geschick: das Bild des Tages!














Die Früchte des Regenwaldes
Schweißperlen liefen aus allen Poren meines Körpers, brannten auf meiner Haut. Die brütende Hitze des Dschungels hinterließ ihre Spuren. Einige Stunden war bereits vergangen, seit wir das Boot verlassen und unseren Landbesuch begonnen hatten. Ich sehnte mich nach einer Erfrischung. Wenige Meter vor mir tat sich eine Lichtung auf und da sah ich es: ein Melonenfeld.
Eine kleine unscheinbare Kugel wartete bereits darauf, von mir entdeckt zu werden. Dermaßen frisch und saftig, dass ich sie mit bloßen Händen teilen konnte, genoss ich jeden belebenden Bissen. Die Tropen sind eine wahre Schatztruhe voller exotischer Früchte. Sie reifen in reinster, fruchtbarer Umgebung. Durch das optimale Zusammenspiel von Sonne, Wasser und Erde entstehen Nahrungsmittel so reich an Vitalstoffen, wie sie nur die Natur erschaffen kann. Zeit meines Lebens habe ich Obst fest in meine tägliche Ernährung integriert. Ich mag die süßen und sauren Komponenten verschiedener Sorten. Doch wie intensiv sie hier im Dschungel des Amazonas frisch gepflückt schmeckten, ließ meine bisherigen Genüsse wie gezuckertes Leitungswasser erscheinen.





In den Tiefen des Regenwaldes dienen die Früchte jedoch nicht nur als Genussmittel. Für die Flussbewohner, auch Ribeirinhos genannt, die den Amazonas entlang in kleinen Dörfern wohnen, sind sie lebensnotwendig. Neben dem Fischfang sind es Sammel- und Landwirtschaft, die ihrem Selbsterhalt dienen. Mit den Kostbarkeiten der Natur ernähren sie ihre Familien. In der Region um Coari ergab sich heute für mich die wunderbare Gelegenheit, eines der Flussdörfer zu besuchen und mehr über Anbau, Ernte, Verarbeitung und Handel zu erfahren. In dem 150-Seelen-Dorf Vila Lira empfing man mich herzlichst. Direkt hinter den Holzbauten begann das Reich des Regenwaldes. Gleich mehrere Bewohner führten uns zielstrebig in den Dschungel. Zwischen wildem Gewächs lächelten mich immer wieder die unterschiedlichsten, farbenfrohen Früchte an. Ich kostete sie alle: Inga, Kalebasse, Guave oder Lucuma. Die kleinen Stärkungen kamen mir gerade recht, denn ein Einheimischer fragte, ob ich bereit sei, die riesige Palme neben mir zu erklimmen…
Um mich herum ragten unzählige Açaí Palmen gen Himmel. Bis zu 25 Meter hoch können sie wachsen. Ihre auffallend violetten Beeren funkelten im Sonnenlicht wie wertvolle Perlen. Sie sind voller gesunder Nährstoffe und Antioxidantien. Die weltweit hohe Nachfrage führte dazu, dass andere Länder versuchten, sie bei sich zu kultivieren. Doch die einzigartige Frucht gedeiht ausschließlich in ihrem Ursprungsland Brasilien. Die feucht, schlammige Erde nah am Ufer des Amazonas ist idealer Nährboden für die gewaltige Pflanze. Ein Umstand, den die Einheimischen zu schätzen wissen. Doch die Ernte ist mühsam. Ein Ribeirinho demonstrierte uns eindrucksvoll, wie man mit Geschick und Körperkraft bis hoch zur Krone klettert, um das Superfood dort zu pflücken. Unzählige Male würde er dies während der Erntezeit vollbringen.
Den angebrochenen Abend verbrachtIch nahm die Herausforderung an und begann einen Selbstversuch. Mit aller Kraft drückte und zog ich mich an dem dünnen Stamm der schwankenden Palme nach oben – und scheiterte kläglich. Schnell wurde mir klar: Muskeln alleine würden mir hier nicht helfen. Es bedarf der richtigen Fertigkeit und Übung, um die Beeren einzuholen. „Eine wirklich knifflige Knochenarbeit leistet ihr hier.“, bemerkte ich beeindruckt. Um eine Erfahrung reicher und amüsiert ob der unikalen Trainingseinheit folgte ich meiner Truppe tiefer in den Wald hinein. Vorbei an Maniokwurzelfeldern und riesigen, bis zu 50 Meter hohen Paranussbäumen erreichten wir schließlich einen Unterstand zur traditionellen Maniokaufbereitung.e ich am Lagerfeuer und plauderte mit dem Ranger, der einige lehrreiche und unterhaltsame Busch-Geschichten zum Besten gab.
Die vielseitig einsetzbaren Wurzelknollen gehören in Brasilien zu den Grundnahrungsmitteln. Auf meiner Reise gab es keine einzige Mahlzeit, die nicht in irgendeiner Weise durch die Tropenkartoffel verfeinert wurde. Ich erfuhr, wie man die giftige Blausäure abkocht, die Feuchtigkeit herauspresst und letztendlich hochwertiges Maniokmehl erhält. Nach der anschaulichen Lehrstunde machten wir uns wieder auf durch den Dschungel zurück zum Dorf…



Leben am Fluss
“Auf eine Exkursion in den brasilianischen Regenwald kann man nie genug Wasser mitnehmen.“ Die Worte des Guides vom heutigen Morgen hallten noch in meinen Ohren, als ich den letzten Schluck aus meiner Trinkflasche nahm. Die extreme Hitze der Mittagssonne und die Luftfeuchtigkeit von über 80% zerrten an meiner Substanz. Schwindel machte sich bemerkbar. „Meine durchnässte Kleidung scheint mehr Flüssigkeit zu enthalten als mein dehydrierter Körper.“, witzelte ich.
Ein plätschernder Bach, der unseren Trampelpfad durch den Dschungel kreuzte, versprach Abhilfe. Unsicher, ob sich das Wasser bedenkenlos trinken ließe, sah ich einen der Guides sich daran laben und mir zunicken. Also füllte ich meine Trinkflasche und stillte meinen Durst.
Im Dorf Vila Lira angelangt erfuhr ich einiges über das Leben der Flussbewohner. Sie existierten im Einklang mit dem Wasser, das ihr Leben bestimme, philosophierten sie. Jedes Jahr zur Regenzeit versinke das Dorf und werde Teil des gigantischen Flusssystems, weshalb sämtliche Holzbauten auf Pfählen errichtet worden seien.
Braune Verfärbungen an den Hütten zeugten davon. Für einige Zeit könnten sie ihre Bleibe dann ausschließlich mit Kanus erreichen, verdeutlichte man uns. Aber so wäre es schon immer gewesen. Lediglich die Ernte solle reichlich sein und ihr Dorf nicht vom Fluss mitgerissen werden. Ihre Bescheidenheit und Einstellung war bemerkenswert.
Plötzlich tönte mein Handy. Das erste Mal seit Beginn meiner Flussfahrt hatte ich kurzzeitig Empfang, ermöglicht durch eine große Satellitenschüssel hier an diesem schlichten Ort. Tatsächlich habe jeder registrierte Brasilianer Anspruch auf Strom und lebe er noch so tief im Dschungel, erklärte man mir.
Die zahlreichen neuen Eindrücke ließen mich in Gedanken verweilen. Doch es wurde Zeit aufzubrechen.
Ich bedankte mich für die unvergessliche Erfahrung. Bevor wir uns verabschiedeten, wollten wir uns für ihre Gastfreundschaft erkenntlich zeigen. Zu Geld haben die Ribeirinhos kaum Bezug, aber ein paar Liter Benzin nahmen sie gerne entgegen. Immerhin sind motorbetriebene Boote ihr einziges Fortbewegungsmittel und die nächsten Städte Stunden entfernt.
Abenteuer der Sinne
Zwischen den Ausflügen an Land und zu Wasser blieb immer wieder genügend Zeit, um die eigentliche Flussfahrt zu genießen. Der Ausguck meiner Kajüte war der perfekte Rückzugsort und bot mir die Möglichkeit, diese neue Welt in aller Ruhe wahrzunehmen und auf mich wirken zu lassen. Allmorgendlich um 6 Uhr genoss ich bei einem schokoladig-nussigen brasilianischen Kaffee den atemberaubend buntstrahlenden Sonnenaufgang. Ein Farbenspiel aus Rot, Orange, Violett und Gelb erleuchtete den Horizont und brachte mich fröhlich in den Tag. Ich fühlte, wie die feuchtheiße Luft einen leichten Film auf meine Haut zauberte. Mein Blick schweifte von links nach rechts und wieder zurück. Hier und da erspähte ich einen der zahlreichen rosafarbenen Flussdelfine, die neugierig um das Hausboot herum tauchten und sich zum Atmen kurz an der Wasseroberfläche zeigten. Es verging nicht ein Morgen, an dem mich diese wunderbaren und zutraulichen Geschöpfe nicht in ihrem Reich willkommen hießen. Begeistert griff ich zur Kamera, um diese Augenblicke einzufangen.
Das sich stetig verändernde Uferpanorama des Amazonas faszinierte mich. So präsentierte sich mir ein unglaublich facettenreicher Dschungel in oft unwirklich anmutenden Bildern: mal undurchdringbar, mal karg, mal bis zu den Wipfeln im Fluss versunken. Umgeknicktes Geäst wurde zu Treibholz und schwamm neben uns her. Gigantische, meilenweite Sandbänke mussten vorsichtig umfahren werden. Riesige, fruchtbare Palmenfelder erschienen ebenso wie matschige, kaum bewachsene Gestaden. Ein Paradies, das die Natur so entstehen ließ, zeitweise von goldenem Sonnenlicht geschmückt, bisweilen in unheimlichen Nebel gehüllt. Rätselhaft unbekannte Laute klangen vom unergründlichen Wald an mich heran. So eindringlich, dass ich sie trotz der Entfernung und des kräftig arbeitenden Schiffsmotors deutlich wahrnahm: Heulen, Zischen, Zirpen, Brüllen, Singen, Quaken, Brummen – eine auf bizarre Art beruhigende, lebhafte Geräuschkulisse rührte an meinen Sinnen. Und immer wieder kroch, schwamm oder flog irgendwo ein fantastisches Tierwesen in mein Sichtfeld. Ich schöpfte diese Momente in vollen Zügen aus.
Fliegende Fische
Langsam glitt unser Beiboot nah am Ufer des Amazonas entlang. Auch bei dem heutigen Ausflug durch die einzigartige Tropenwelt ließ ich mich von der faszinierenden Flora und Fauna verzaubern – doch etwas war anders. Die Wasseroberfläche schien ungewohnt unruhig. Es war kein starker Wellengang, eher ein leichtes Vibrieren direkt um das Boot herum. Ich stand von meinem Platz auf, lehnte mich weit über den Rand und starrte auf den bebenden Fluss. Plötzlich klatschte mir etwas hart gegen den Kopf. Dann schoss ein Fisch nach dem anderen in hohem Bogen aus dem Wasser – ein tierisches Spektakel!
Als wollten sie um unsere Aufmerksamkeit buhlen, präsentierten sie ihre eindrucksvollen Sprungkünste. Etliche der fliegenden Fische landeten jedoch unbeabsichtigt im Boot, zappelten zu unseren Füßen und rangen nach Sauerstoff. Vorsichtig hob ich zunächst meinen unfreiwilligen Angreifer auf. Ich erschrak aufgrund der überdimensionalen Stoßzähne des Payaras, der auch als Vampirfisch bekannt ist. Gnadenlos schnappte er nach mir. ,Ein Glück, dass er eben nicht zugebissen hat, als er mit voller Wucht gegen mein Gesicht geflogen ist.‘, ging es mir durch den Kopf. Ich entließ ihn und die anderen blinden Passagiere zurück in die Unterwasserwelt.
Die Vielfalt an Fischarten im Amazonas ist unvorstellbar. Um die 2000 sind bisher bekannt, mehr als irgendwo anders auf unserem Planeten, und stetig werden neue entdeckt. Reichlich bizarre Monsterfische tummeln sich darunter.
Mein Zusammentreffen mit der Babyvariante eines Vampirfisches war bereits eine aufregende Erfahrung. Man stelle sich vor, ein ausgewachsenes Exemplar wäre mir begegnet – kann er doch über 100 Zentimeter lang und 20 Kilogramm schwer werden. Fünf Zentimeter große Fangzähne bewaffnen den Unterkiefer des extrem aggressiven Räubers, der bei den Einheimischen für seine Kampfstärke gefürchtet und zugleich verehrt wird. In der Ferne bemerkten wir zwei Fischer. Interessiert an ihrem Handwerk, steuerten wir die beiden an…
Blutige Raserei
Von seinem Kanu aus warf ein Vater mit seinem Sohn Fischernetze ins Wasser. Wir bekamen die Gelegenheit, den Beiden bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. Dadurch erfuhr ich, dass die Nachkommen der Flussbewohner das Handwerk von klein auf erlernen. Die Ribeirinhos organisieren sich als Familienunternehmen und so kommt jedem eine eigene Aufgabe zu, von den Kindern bis zu den Großeltern.
Aufmerksam beobachtete ich, wie das eingespielte Vater-Sohn-Gespann ein 50 Meter langes Netz kraftvoll einholte. Einige außergewöhnlich große Exemplare füllten nun das Boot. Stolz präsentierten sie uns ihren Fang. Anschließend durften wir sie zu ihrem Zuhause begleiten: eine am Ufer gelegene Holzhütte. Konstruiert auf schwimmenden Baumstämmen trotzt sie dem Hochwasser der Regenzeit. Auf einem Steg lagerten hunderte Fische in gekühlten Styroporkisten. Zeitnah würden diese auf dem Fischmarkt angeboten werden.
Da ich mich ganz offensichtlich unter Experten befand, erkundigte ich mich nach dem wohl berühmtesten Amazonas-Fisch: dem Piranha. Er gilt als blutrünstig. Im Schwarm fällt er über seine Opfer her und beißt mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen ganze Fleischstücke heraus.
Man nannte uns einen Angelplatz, an dem man die berüchtigten Raubfische mit ziemlicher Sicherheit antreffen würde. Am späten Nachmittag machten wir uns dorthin auf den Weg. Ich nahm meine selbstgebastelte Rute aus Bambusrohr und Schnur zur Hand, bestückte den spitzen Haken mit blutigem Fleisch und warf den Köder aus.
Innerhalb von Sekunden spürte ich ein leichtes Schwingen. Mit einem kräftigen Ruck zog ich meine Beute aus dem Wasser. Sein furchteinflößendes Gebiss ließ keinen Zweifel offen: Es war ein vor Wut rasender Piranha.
Vorsichtig löste ich den Haken und hielt den hitzigen Jäger achtsam in der Hand; beobachtete sein kräftiges Maul und den wilden Blick, bevor ich ihn zurück in den Fluss beförderte.
Piranhas sind besser als ihr Ruf. Sie leisten eine wichtige Rolle als „Cleaner“. Dadurch, dass sie kranke Tiere fressen, halten sie die Gewässer sauber und reduzieren Schadstoffe. Nicht ohne Grund hat die Natur solch erbarmungslose Fleischfresser hervorgebracht.



